Courage im Alltag – Fünftklässler machen richtig Theater und üben sich in Sozialkompetenz für zukünftiges Handeln in brisanten Konfliktsituationen

„Ford“, „Jaguar“, „Porsche“, „Ähm, Audi, ist doch ein Auto, gell?“, „Mercedes“, „Lambo“, „VW“, „Peugeot“, „Mir fällt nichts mehr ein.“ „Mir auch nicht.“ – „Gut gemacht. Euch sind ganz schön viele Automarken eingefallen“, lobt Workshop-Leiterin Lisa Kuhnen die beiden Fünftklässler Emely und Amina. Wie in einem richtigen Battle standen sich die beiden Kontrahentinnen gegenüber. Doch es flogen keine Fäuste. Die beiden warfen sich nur die Namen von Automarken an die Köpfe. „Eine Aufwärmübung. Gestern haben wir ein Bewegungsspiel und Pantomime gemacht“, erläutert Kuhnen.

Die Sozialarbeiterin mit dem Schwerpunkt Theaterpädagogik leitet im Rahmen von „Aufholen nach Corona“ einen zweitätigen Theaterworkshop an der Anton-Hansen-Gemeinschaftsschule. „Change your role – change your mind“ lautet der Arbeitstitel. Für den angestrebten Rollentausch und das Verändern der Einstellung bietet das Theater die ideale Bühne, wie Kuhnen erläutert: „Das Schöne finde ich am Theater, dass man in neue Rolle schlüpfen kann. Dinge tun, die man nicht getan hat – alles im geschützten Raum. Beim Theater kann man einfach alles.“

Die zehn ausgewählten Fünftklässler agieren an den beiden Tagen in drei Kleingruppen. Jede Gruppe erarbeitet eine Inszenierung zu einer Konfliktsituation ihrer Wahl – Stichwort Lebensweltbezug. „Der von mir für den Workshop gewählte Ansatz heißt Statuentheater und stammt von Augusto Boal“, erläutert die Neunundzwanzigjährige. Der bedeutende Theaterpädagoge Augusto Boal (1931–2009) erarbeitete unter dem Label „Das Theater der Unterdrückten“ eine Methodenreihe, die von europäischen Theaterpädagogen in der politischen und interkulturellen Bildung angewandt wird. Boal ist von der heilenden Kraft des Theaters überzeugt: Sein Theater vermag die Realität zu verändern und gar soziale Probleme zu lösen. Ein hehrer Anspruch, von dem die Schüler*innen – ohne den theoretischen Überbau zu kennen – dennoch profitieren, wie der Workshop zeigt.

Emely, Fabian und Max entscheiden sich für eine Situation, wie sie auf dem Schulhof auch schon mal vorkommt: eine Rauferei. Emely liegt auf dem Boden, die Hände schützend vor ihrem Gesicht verschränkt. Fabian tritt weiter auf sie ein. Max beobachtet als unbeteiligter Dritter das Geschehen, ohne einzuschreiten. Diese archetypische Konfliktsituation bildet den Ausgangspunkt der Inszenierung von Gruppe 1. Das Realbild spiegelt das ausgewählte Thema aus der Sicht eines jeden Teilnehmenden wider. Auch das im Anschluss nachgestellte Idealbild, also wie sich die Situation ändern soll, beruht auf dem Konsens aller Beteiligten. Der zuvor unbeteiligte Max reicht Emely die Hand, Aggressor Fabian zieht sich zurück. Der Konflikt ist gelöst, aber wie?

„Jetzt kommt das schwerste: Wie schafft ihr es, diese Situation aufzulösen? Überlegt euch, wie ihr das darstellen könnt“, stellt Kuhnen den Gruppen als nächste Aufgabe. Im Gegensatz zu den statischen Real- und Idealbildern sind die Schüler*innen beim Übergangsbild dazu angehalten ihren Lösungsansatz theatralisch zu spielen – Szene für Szene. Es bietet sich an, den Übergang schriftlich festzuhalten – in Worten oder Skizzen, wie es Gruppe 2 macht. Damit schlüpfen die Schüler*innen kurzzeitig in die Rolle der bzw.  des Schreibenden. Anstatt über die Probleme zu reden, was neue Probleme erzeugt, gilt es über die Lösungen zu sprechen, um auf neue Lösungen zu kommen. Handlungs- und produktionsorientierte Anleitung zur Selbsthilfe. Es gilt internalisierte Verhaltensmuster zu hinterfragen, denn „Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist.“ Und das bedeutet Stillstand für den Menschen, ergo die Gesellschaft. Deshalb ermutigt Kuhnen die Schüler*innen sich frei im Theater-Kontext zu entfalten, sich auszuprobieren. Und das kommt gut an. „Ich fand es toll und cool. Es war für mich neu, der Böse zu sein, denn normalerweise bin ich nicht böse“, berichtet Fabian, der weiterhin an Theaterprojekten teilnehmen wird. „Mir hat es gefallen, uns Geschichten über Freundschaften auszudenken“, sagt Rand und ihre Freundin Gyuli ergänzt: „Es war so angenehm, weil nicht so viele Leute wie im Unterricht da waren. Ich habe einmal kurz die Lehrerin gespielt. Jetzt weiß ich, wie anstrengend das ist. Man braucht sehr viel Geduld.“

Text + Bild: David Lemm